kippen

ensemble metanoia 2014 /2015
versch. aufführungen


Video Heidi Hiltebrand

kippen Das Programm "kippen" baut auf einer Reihe von Soundscape-Recordings auf, die die Basis für Komposition und Improvisation bilden. Es geht vor allem um Rhythmen – was diese über eine Situation aussagen, wie sie eine Situation prägen und wie sie sich verändern, wenn die Stimmung kippt.

Silvio Cadotsch: Posaune, Komposition
Sebastian Hofmann: Schlagzeug, Komposition
Jörg Köppl: Konzept, Komposition, Elektronik
Philipp Schaufelberger: Gitarre, Komposition
Anna Trauffer: Bass, Gesang, Komposition

a) staunen über die welt

Tonspur 1: Der fallende Baum

Ich bin im nahen Wald, um Aufnahmen zu machen. Plötzlich höre ich unsägliche Geräusche - wie ein Feuerwerk. Es ist das zersplittern des Stammes und das Krachen der Äste eines fallenden Baumes.

Tonspur 2: An der Kasse

Ich kaufe fast täglich im unterirdischen Coop ein und kenne inzwischen die Gesichter der Personals. Sie sind mir sympathisch, aber wir sprechen kaum miteinander. Die Kassen piepsen und ich schweige meistens.

Tonspur 3: Muezzinrufe in Amman

In Ammann werden die Muezzinrufe mittels Radio zu allen Minaretten übertragen. Ein Delay-Effekt entsteht durch die Entfernung der verschiedenen Moscheen vom Aufnahmestandort, die Übersteuerung durch einen Kompressor, der die Lautstärke in den Pausen des Gesangs automatisch hochzieht.

b) these

Tonspur 04: Prosodische Interaktion

Wir interagieren mit unseren Stimmen spontan und unbewusst. Das wird gut hörbar, wenn wir die Stimmen verlangsamt abspielen: Angleichungen in Tonhöhe und Rhythmus werden offensichtlich. Sehr deutlich ist es bei den Einwürfen „mhm“ und Ähnlichem, wenn beide Stimmen gleichzeitig zu hören sind.

Tonspur 5: Afrikanische Begrüssung

Ich stehe mit der Mikrofonangel vor den Frauen eines afrikanischen Dorfes, die sich versammelt haben, um das Erbrecht zu diskutieren. Bei der Diskussion geht es darum, dass die Familien jeweils in Pflicht stehen, die Eltern des Mannes zu versogen. Für die Eltern, die keine Söhne haben, müssen die Tochter zu sorgen. Sie erhalten dafür ein kleines Stück Land, das sie - um genug Ertrag zu erwirtschaften - sorgfältig düngen und pflegen. Nun wird diesen aber jedes Jahr ein neues Feld zugeteilt und sie müssen mit der Fruchtbarmachung von vorne beginnen. Auf Anregung einer Hilfsorganisation wird nun diskutiert, ob sie dieses Stück Land nicht behalten könnten.

Tonspur 6: Metanoia - Knoten

Eine kurze rhythmische Stelle aus den 6-stimmigen „metanoia“ – Aufnahmen. Ein Zoom in das Geplauder, das sich in einer Pause der Hörspielaufnahmen entspinnt. Es sind alle sechs Sprecher gleichzeitig zu hören, die kreuz und quer miteinander reden. Die Stimmen verweben sich melodisch und rhythmisch.

c) brüche

Tonspur 7: Wehen und Tatort

Vor der Geburt unserer Tochter liegen wir auf dem Bett und schauen einen Tatort-Krimi. Ich notierte die Dauern und Abstände der Wehen, damit wir rechtzeitig ins Spital fahren.

Tonspur 8: Stimme und Fräse

Ich habe die Fräse wegen der schönen Obertonreihen aufgenommen, die auftauchen, wenn sie abgestellt wird. Beim Wiederhören fällt mir das melodische Zusammenspiel der Rufe des Arbeiters mit dem Motorenklang auf. Er ruft etwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe, aber die Melodie scheint zu sagen: „Nein, stell noch nicht ab. Es gibt noch zu tun“.

Tonspur 9: Schulpause

Diese Monoaufnahme einer Schulpause machte ich von meinem Atelier aus. Über zwölf Minuten bauen sich die dichten Interaktionen der Kinder auf, die vorher und nachher lange still sitzen müssen.

d) zwischenspiel

Tonspur 10: Grillen und italienische Familie

Während einiger Wochen in einem Pinienwald an der italienischen Mittelmeerküste hörte ich den Grillen zu, wie sie am Morgen langsam mit „Gesprächen“ starten und sich dann gegen Nachmittag zu rhythmisch groovenden Orchestern steigern. Eine italienische Familie, die vom Strand zurückkehrt verliert in dieser massiven Klangkulisse ihr Zentrum.

e) brüche

Tonspur 11: Strassenbild Kairo

An einem gewöhnlichen Tag in Kairo nehme ich vom Balkon der Atelierwohnung aus diese Soundscape auf. Ein dichtes Gewebe aus Rufen, Hupen, Motoren und Sirenen mischt sich mit dem Muezzin.

Tonspur 12: Lachen

Am Konzert versuchen wir mittels Lachyoga-Übungen in ein spontanes Gelächter auszubrechen. Das Lachen kommt im Programm direkt vor Aufnahemn der Revolution in Ägypten. Man kann an die Sufis denken, die oft Humor einsetzen, um verfahrene Situationen aufzuweichen. Uns interessiert noch eine andere Perspektive: Lachen ist - und gleict darin dem Volksaufstand - ein spontaner Synchronisierungsprozess.      

Tonspur 13: Strassenbild Kairo während der Revolution

In den ersten Tagen der Revolution nehme ich vom Balkon der Atelierwohnung an der Sharia Champillion aus diese Soundscape auf. Zu hören sind die Demonstrierenden, die sich immer wieder zu skandierened Gruppen zusammen finden. Dann Schüsse, die diesen Prozess unterbrechen. Die Rufe des Muezzins dazwischen wirken auf mich sowohl verzweifelt wie auch tröstlich.